Seltharion wuchs in Silden auf, einer kleinen, aber geschäftigen Stadt am Fluss. Die Stadt war bekannt für ihre Fischerei, Holzfällerarbeiten und das nahegelegene Jagdgebiet, das reich an Wild war. Händler und Reisende passierten oft Silden auf ihrem Weg nach Myrtana oder in die entlegeneren Regionen des Reiches. Der Marktplatz war das Herz der Stadt, wo Händler ihre Waren anboten und die Menschen Neuigkeiten austauschten. Die Straßen waren aus festgetretenem Lehm, und viele der Häuser bestanden aus grobem Holz und Stein, gebaut, um den harten Wintern standzuhalten.
Seltharions Zuhause lag nahe am Flussufer. Es war ein einfaches, aber gemütliches Haus mit einer kleinen Feuerstelle, an der seine Mutter oft kochte. Der Geruch von frisch gebackenem Brot und geräuchertem Fisch erfüllte häufig die Luft. Sein Vater Wolfgang hatte eine kleine Bootsanlegestelle hinter dem Haus, an der er seine Netze trocknete und das Boot festmachte. Wolfgang war nicht nur ein Fischer, sondern auch ein geschickter Händler. Jeden Morgen fuhr er mit seinem kleinen Boot hinaus, um Netze auszuwerfen und frischen Fisch zu fangen. Ein Teil der Beute wurde von Melania, seiner Frau, geräuchert oder gesalzen, um ihn haltbar zu machen. Den restlichen Fisch verkaufte Wolfgang entweder auf dem Markt oder tauschte ihn gegen andere Waren wie Brot, Gemüse oder Werkzeug ein. Er hatte sich ein Netzwerk aus Kunden aufgebaut, darunter Tavernenbesitzer und wohlhabendere Bürger, die stets frischen Fisch von ihm verlangten. Gelegentlich nahm er auch Sonderaufträge an und lieferte seltene oder besonders große Fische an Adlige, die bereit waren, einen hohen Preis zu zahlen.
Steffen, sein älterer Bruder, war ein Mann, der für Gold alles tat. Er hatte keine Skrupel, egal welche Aufgaben es waren – ob Botengänge, Schutzdienste oder dunklere Geschäfte, solange er daran verdiente. Viele in Silden sahen ihn als jemanden, dem man lieber nicht zu sehr vertraute, doch sein Geschäftssinn war unbestreitbar.
Das Umland von Silden war von dichten Wäldern und sanften Hügeln geprägt. Wilde Tiere wie Wölfe und Hirsche streiften durch die Gegend, und der Fluss lieferte nicht nur Nahrung, sondern diente auch als Handelsroute. In der Ferne konnte man die Berge von Nordmar sehen, deren schneebedeckte Gipfel sich majestätisch gegen den Himmel erhoben.
Seltharion selbst hatte nie wirklich eine feste Aufgabe. Zwar half er seinem Vater gelegentlich beim Fischfang und beobachtete seinen Bruder bei dessen zwielichtigen Geschäften, doch seine Gedanken waren oft anderswo. Während Steffen sich keine Gedanken über Moral oder Zukunft machte, sehnte sich Seltharion nach einem anderen Leben. Er wollte mehr als nur die immer gleichen Straßen von Silden sehen, mehr als nur ein einfaches Handwerk erlernen.
Schon als Kind war Seltharion von Seefahrern fasziniert. Wann immer ein Schiff in Silden anlegte, eilte er zum Hafen, um den Matrosen zuzusehen, wie sie Ladung entluden oder Geschichten von fernen Ländern erzählten. Die Erzählungen über gewaltige Meeresstürme, geheimnisvolle Inseln und Kämpfe gegen Piraten zogen ihn in ihren Bann. Manchmal half er den Seeleuten beim Tragen von Kisten oder reinigte das Deck, nur um ein paar Worte mit ihnen wechseln zu können. Er bewunderte ihren Mut und ihre Abenteuerlust – Eigenschaften, die er in sich selbst zu entdecken hoffte.
Sein Wunsch, aus Silden aufzubrechen, wurde mit jedem Tag stärker. Die Geschichten der durchreisenden Händler über ferne Länder und unbekannte Gefahren faszinierten ihn. Schließlich fasste er den Entschluss: Er würde nach Khorinis reisen, um sich dort eine Zukunft aufzubauen.
Die Schifffahrt nach Khorinis war lang und beschwerlich. Die See war unruhig, und das monotone Schaukeln des Schiffes machte selbst den erfahrensten Matrosen zu schaffen. Seltharion, ungeübt in der Kunst des Seefahrens, musste sich an die ständige Bewegung gewöhnen. Dennoch konnte er seine Begeisterung kaum verbergen. Er verbrachte viel Zeit an Deck, beobachtete die Crew bei der Arbeit und stellte neugierige Fragen über das Navigieren, den Umgang mit Seilen und Segeln. Er genoss die raue Seeluft, auch wenn er sich erst an das ungewohnte Leben an Bord gewöhnen musste.
Eines Nachts, als die Wellen ruhig gegen den Rumpf schlugen und die meisten Männer schliefen, wurde die Stille von gedämpften Schreien und schnellen Schritten unterbrochen. Seltharion erwachte abrupt. Ein dunkler Schatten huschte über das Deck. Als er sich näher schlich, erkannte er vermummte Gestalten, die mit kurzen Klingen durch die Crewmitglieder glitten. Assassinen. Ihr Ziel war unklar, doch ihre Absicht war tödlich.
Ein alter Seemann namens Hargor, der Seltharion einige Tricks beigebracht hatte, packte ihn am Arm und zog ihn hinter eine Kiste. „Bleib ruhig, Junge. Sie suchen etwas – oder jemanden“, flüsterte er.
Ein Schrei erklang von der Kajüte des Kapitäns. Der Kampf entbrannte. Matrosen griffen nach Waffen, während die Angreifer mit präzisen, schnellen Bewegungen zuschlugen. Seltharion spürte, wie sein Herz raste. Er wusste, dass er sich verstecken musste, doch als einer der Assassinen auf ihn zukam, griff er instinktiv nach einem lose herumliegenden Holzbrett und schlug zu. Der Attentäter taumelte zurück, doch bevor er sich erholen konnte, rammte Hargor ihm ein Messer in die Seite.
Der Kampf dauerte nicht lange. Der Kapitän und einige bewaffnete Matrosen konnten die Angreifer zurückdrängen. Schließlich sprangen die Überlebenden über Bord und verschwanden in der Dunkelheit der Nacht. Es wurde vermutet, dass die Assassinen einen Passagier an Bord im Visier hatten – vielleicht einen Adligen oder einen Händler mit Feinden.
Am nächsten Morgen waren die Leichen der gefallenen Matrosen das einzige Zeugnis des nächtlichen Angriffs. Seltharion konnte den Anblick nicht so leicht abschütteln. Die Reise war nicht mehr nur ein Abenteuer – sie war gefährlich. Dennoch fühlte er sich stärker, mutiger. Zum ersten Mal hatte er sich in einer echten Gefahrensituation behauptet.
Schließlich kam der Tag, an dem das Schiff den Hafen von Khorinis erreichte. Doch die Stadt war leer, niemand war zu sehen. Mit seinem Gold, seiner billigen Kleidung, etwas zu essen und trinken und seiner Tasche machte er sich auf, einen belebten Ort zu finden. Schließlich fand er diesen: den Großbauernhof von Khorinis. Dort wurde er vom Knecht Laurin, Söldner Fjorim und Seemann Olfrik begrüßt.