Die Arbeiten im Neuen Lager

  • Letztes Licht über dem Reisfeld


    Die Sonne stand tief über dem Feld, als hätte sie keine Lust mehr, diesen Tag weiter auszuleuchten. Ein rotgoldener Schleier lag über den Halmen, ließ das Wasser zwischen ihnen glitzern wie geschmolzenes Erz. Die Luft war schwer, klebrig, voller stehender Wärme, die alles träge machte – selbst die Insekten klangen müde.

    Und Rothwig stand dort, ganz allein, die Stiefel bis zu den Knöcheln im Matsch. Er bewegte sich kaum. Nur sein Atem hob sich langsam, kontrolliert.

    Kein anderer Schürfer war heute draußen. Kein Bandit. Nur er. Das Feld. Die Hitze. Und sein Korb.

    Der Korb war neu gewesen, als er ihn gekauft hatte. Kein Ramschstück vom Basar, kein geflicktes Ding aus den Händen eines besoffenen Händlers – sondern ein gutes, stabiles Stück, von einem Händler aus Khorinis. Gutes Werk, feste Nähte, stabile Riemen. Rothwig hatte nicht gefeilscht. Wer zahlt, bekommt was er braucht. Der Korb war immer bei ihm. Heute war er voll.

    Er trat einen Schritt aus dem Wasser, suchte sich einen festen Platz am Rand des Feldes. Die untergehende Sonne glitzerte auf seinem Schweiß, aber er wischte ihn nicht weg.

    Er löste langsam den Korb von den Schultern, stellte ihn neben sich. Griff hinein.

    Die erste Flasche: Reisschnaps von Latil.
    Fein gebrannter Stoff. Keine Alchemistenplörre, kein Schnaps aus zweiter Hand – Rothwig hatte ihn selbst gekauft. Direkt in der Seekneipe, gegen eine ordentliche Hand voll Erz. Kein Tausch, keine Worte, nur ein Blick, ein Griff, ein Nicken. Bezahlt. Fertig.

    Er zog den Korken. Der scharfe Geruch biss ihm sofort in die Nase. Er lachte nicht, er grinste nicht. Er trank.

    Der erste Schluck brannte ihm die Kehle trocken. Der zweite ließ seine Schultern sinken. Der dritte befreite ihn – ganz leise – von der Welt da draußen.

    Er stellte die Flasche zur Seite. Und griff nach der nächsten.

    Krautschnaps.
    Dunkler Ton, ein schlichter Korken, keine Marke, keine Verzierungen. Rothwig hatte zwei Flaschen gekauft, gleich beim ersten Mal. Kein Wort über den Preis. Wenn es passt – passt es.

    Der Geschmack war erdig, fast herb. Aber ehrlich. Kein Zucker. Kein Gesülze. Nur Bitternis und Rauch. Rothwig nahm sich Zeit. Trank langsam. Jeder Schluck ein Schritt weiter weg vom Lärm.

    Dann griff er tiefer in den Korb, zog ein kleines, altes Stoffstück heraus, in das etwas gerollt war. Vorsichtig entrollte er es.

    Der Stängel.
    Sumpfkraut. Trocken, bröselig, aber noch gut. Ein Tauschstück von vor Monaten – ein Novize hatte ihn ihm in die Hand gedrückt, ohne viel zu reden.Kein Dank. Kein Versprechen.

    Er nahm ihn in die Hand, ging zur Fackel – dann ein leichtes Glimmen. Der erste Zug war hart, trocken, kaum Aroma. Der zweite... leichter. Und dann begann sich etwas zu verändern. Nicht plötzlich. Aber sanft.

    Die Sonne senkte sich langsam in den Horizont, als wollte sie nicht mehr zusehen. Der Reis schwankte im Wind, als hätte er angefangen zu atmen. Rothwig blinzelte. Die Welt war noch da – aber sie war leiser.

    Er griff zur letzten Flasche.

    Wacholder.
    Ein dünnes Glas, sauber, klar. Der Alkohol hell, fast durchsichtig. Auch den hatte er gekauft – von einem Händler mit vielen Flaschen und noch mehr Geschichten. Rothwig hatte keine Geschichte verlangt. Nur das Getränk. Kein Wort gewechselt. Nur gezahlt. Dann gegangen.

    Er trank. Der Wacholder war süß, fast kühl. Ein freundlicher Abgang für diesen Abend. Der letzte Schlüssel. Die letzte Kante.

    Er saß noch eine Weile dort. Die Flaschen bei seinen Füßen. Der Stängel glimmte fast ganz runter. Der Himmel war inzwischen violett, dann schwarz.

    Er stand langsam auf. Die Beine zitterten leicht, aber trugen ihn. Der Korb kam zurück auf den Rücken. Die Schritte waren unsicher, aber zielsicher. Er kannte den Weg. Und er war nicht so weit.

    Seine Hütte war dunkel, aber kühl. Der Boden staubig, die Luft modrig. Er trat ein. Die Suppe stand noch auf dem Bett – Fleischsuppe. Er nahm die Schüssel in beide Hände.

    Dann verlor sich alles.

    Der Kopf kippte langsam nach vorn. Die Stirn berührte den Rand. Die Suppe wankte, schwappte, tropfte. Seine Arme rutschten nach vorn, der Rücken wurde weich, der Körper schwer. Der Korb kippte seitlich, die Flaschen rollten auf den Boden. Die Wacholderflasche klirrte leise.

    Und Rothwig fiel.
    Ins Bett.
    Ins Dunkel.

    Nicht betrunken. Nicht besiegt.
    Nur fertig.
    Fertig mit dem Tag, mit der Hitze, mit allem.

    Er hatte gekauft, was er brauchte.
    Getrunken, was er wollte.
    Und geschlafen, wie er es verdiente.

    Ganz allein.
    Ganz ruhig.
    Ohne einen einzigen Zeugen.

    Spoiler anzeigen

    3 Mal editiert, zuletzt von Fidel (29. August 2025 um 00:53)

  • Fidel 14. Juli 2025 um 00:18

    Hat den Titel des Themas von „Letztes Licht über dem Reis“ zu „Die Arbeiten im Neuen Lager“ geändert.
  • Fett, Feuer, Flüche

    Die Aufgabe klang einfach. Zu einfach.

    „Fette die Fackeln in der Mine. Auch den Kessel draußen. Und fass keine Scheiße an.“

    Rothwig hatte nur genickt. Nicht weil er sich freute, sondern weil es eine Chance war. Seine erste Chance. Eine Aufgabe. Und vielleicht – wenn er nicht alles gegen die Wand fuhr – seine erste Stimme. Der erste Schritt, nicht mehr irgendein verdreckter Niemand zu sein.

    Der Eimer war schwer. Das Fett darin zäh, klebrig, schon leicht säuerlich im Geruch. Ranzig. Wie ein altes Schwein in der Sonne. Rothwig trug ihn mit beiden Händen, tastete sich langsam in die freie Mine vor, während sich der kalte Nebel des Morgens über das Lager legte. Niemand sprach mit ihm. Niemand beachtete ihn.

    Niemand war da.

    Nur er.

    Und die Fackeln.

    In der Mine war es still. Kein Schürfen, kein Hämmern, keine Stimmen. Nur das Knacken der Flammen an den Wänden. Er setzte den Eimer ab. Kniete sich hin. Und griff mit bloßer Hand hinein.

    Das Fett war kalt.

    Zäher, glitschiger Schleim glitt ihm durch die Finger. Es klebte an der Haut, sickerte in die Ritzen unter den Nägeln. Er sagte nichts. Nur sein Atem war zu hören. Schwer und stoßweise in der stillen Luft, während er zur ersten Fackel trat.

    Mit der bloßen Hand fuhr er am Holz entlang, verteilte das Fett über die rissige Oberfläche, zwischen Halterung und Griff, um die Flamme herum. Sie knackte leise. Das Licht flackerte auf. Die Fackel fraß das neue Fett gierig – brannte heißer, heller.

    So ging es weiter.

    Fackel für Fackel.

    Schritt für Schritt.

    Er arbeitete sich tief in die dunklen Gänge hinein. Die Flammen flackerten im Wechsel mit der Dunkelheit. Seine Hand wurde taub. Das Fett klebte mittlerweile bis zum Unterarm. Der Eimer war schwerer geworden – nicht weil er voller war, sondern weil er länger getragen wurde. Die Luft war dicker als draußen. Und feucht.

    Irgendwann – niemand weiß, wie viel Zeit vergangen war – stolperte Rothwig.

    Der Eimer schlug auf den Boden. Ein dumpfer, schleifender Klang. Der Inhalt schwappte zur Seite, klatschte gegen den Stein, gegen seine Stiefel, gegen seine Knie. Das Fett breitete sich wie eine schmierige Pfütze aus.

    „Verdammt…!“ keuchte er.

    Er wollte es auffangen – doch mit was? Seine Hand war schon fettig, die andere auch. Ein Tuch hatte er nicht. Er war nicht hier, um es leicht zu haben.

    Also fuhr er einfach mit der bloßen Hand über den Boden, schob zusammen, was er konnte. Schmierte sich dabei selbst noch mehr ein. Es war absurd. Es war erniedrigend. Aber es war die Aufgabe.

    Er stand wieder auf. Weiter.

    Fackel für Fackel.

    Als er fast fertig war, kam die letzte Schwierigkeit: eine Fackel nahe dem Ausgang, halb heruntergebrannt, kaum mehr zu erreichen, wenn man nicht das Gleichgewicht verlor. Rothwig streckte sich, das Fett tropfte von seiner Hand – und in dem Moment rutschte er ab. Der Griff an der Halterung verlor Halt, die Flamme zuckte – und fiel.

    Genau auf seinen linken Stiefel.

    Ein Schrei hallte durch die Gänge. Dumpf, hohl, erstickt.

    Er trat wild um sich, schlug mit der anderen Hand auf den Fuß ein, wich zurück, verlor fast das Gleichgewicht. Die Flamme fraß sich nicht weit – aber weit genug, dass der Geruch von verbranntem Leder in seiner Nase blieb.

    Der Schuh war ruiniert. Angebrannt, geschwärzt, brüchig am Rand.
    Aber die Fackel brannte wieder heller.

    Er beendete die Arbeit schweigend. Kein Fluch mehr. Kein Laut.

    Als er aus der Mine trat, war der Himmel rot wie glühendes Erz. Er setzte sich in den Schatten eines Felsbrockens, stellte den leeren Eimer neben sich, ließ die Hände auf die Knie sinken.

    Er roch wie ein Mischwesen aus altem Tier und schlechtem Lagerfeuer. Seine Hände glänzten noch immer von Fett. Der Stiefel knirschte bei jeder Bewegung. Aber die Arbeit war getan.

    Er holte zwei kleine Flaschen aus seinen Korb. Reisschnaps. Der erste brannte im Hals. Der zweite schmeckte nach Triumph. Oder Wahnsinn.

    Dazu eine kalte Wurst. Zäh, aber nahrhaft.

    Er kaute langsam, starrte ins Leere.

    Ob es jemand gesehen hatte?

    Ob er es gesehen hatte?

    Ob er die Stimme bekam?

    Rothwig wusste es nicht.

    Aber er hoffte.

    Und das war mehr, als er gestern hatte.

    2 Mal editiert, zuletzt von Fidel (29. August 2025 um 00:52)

  • Rothwig auf See

    Der Morgen begann wie jeder andere: feuchte Luft, klebriger Schlamm, die knirschenden Schritte durchs Feld. Rothwig war gerade dabei, sich eine Pause zu gönnen, als am Haupttor Unruhe aufkam. Kein Streit. Etwas anderes. Schwerer. Wuchtiger.

    Slay stand dort. Der Bandenboss. Die Art Mann, der keine Fragen duldete. Neben ihm standen Latil, Kyra, Thufir, Vetor, Fynn, Fitch, Muxa – ein halbes Dutzend kampferprobter Gesichter, alle bereit zum Aufbruch.

    Rothwig wollte gerade vorbeigehen, da hob Slay nur die Hand und sagte:

    „Du kommst mit.“

    Kein Befehl. Kein Vorschlag. Eine Entscheidung. Getroffen.

    Rothwig überlegte einen Wimpernschlag lang, dann nickte er. Er war kein Kämpfer, kein Bandit. Aber auch kein Idiot. Wer im Neuen Lager lebt, lebt zwischen Regeln und Rohheit. Man fragt nicht. Man geht.

    Sie verließen das Lager zu Fuß, kamen bald an den Steg. Ein altes, abgewetztes Schiff wartete dort. Der Himmel war klar, das Meer still. Das Holz knarrte unter ihren Stiefeln, als sie an Bord gingen. Niemand erklärte, wohin es ging. Rothwig sagte kein Wort.

    Das Schiff legte ab. Minuten vergingen. Stille. Nur das Gluckern der Wellen und das Knarren des Mastes. Jeder an Bord schien zu wissen, was bevorstand – nur Rothwig nicht. Doch er hatte ein Gefühl. Und das trog ihn nicht.

    Dann ertönte der Ruf vom Ausguck:
    „Schiff voraus! Königliches Banner!“

    Alle drehten sich. Weiße Segel. Goldene Löwen. Glänzendes Holz. Frisch bemalt. Ein Schiff des Königs – mitten auf ihrem Wasser.

    Ein kurzes Zucken ging durch die Banditen – wie ein Aufblitzen von Hunger in den Augen wilder Tiere.

    Und dann geschah es.

    Keine Taktik. Kein Schlachtruf. Sie gingen einfach los. Sprangen an Bord, wie Hyänen auf ein verwundetes Tier. Die königlichen Soldaten waren überrascht. Überrumpelt. Vielleicht hatten sie gehofft, es handle sich um einfache Piraten oder Händler. Falsch gedacht.

    Was folgte, war rohe, ungeschminkte Gewalt. Kein geregelter Kampf. Kein Ehrbegriff. Nur Chaos.

    Und als es vorbei war, lag das Deck voller Leichen.

    Rothwig stand mittendrin. Blutspritzer im Gesicht, die Hände verkrampft um einen hölzernen Knüppel, den er irgendwann aufgenommen hatte. Sein Herz schlug ruhig. Er atmete gleichmäßig. Was um ihn lag, war kein Schock – es war Realität. Eine, die er kannte. Nur seltener sah.

    Die königlichen Soldaten lagen da wie Tiere nach der Schlachtung. Einige zusammengesackt, durchbohrt, zerschlagen. Andere über Bord geworfen, die Beine halb noch an Deck, die Köpfe schief zur Seite geneigt, die Augen weit offen, als könnten sie immer noch nicht fassen, was passiert war.

    Ein junger Rekrut lag auf dem Rücken, der Brustkorb offen wie eine aufgerissene Truhe, die Rippen gebrochen, das Fleisch zerfetzt. Neben ihm ein Mann, dem das Gesicht fast vollständig fehlte – nur eine blutige Masse mit zertrümmertem Knochen darunter. Zwei weitere Soldaten hatte man offenbar beim Versuch zu fliehen in den Rücken gestochen. Mehrmals. So oft, dass ihre Rücken aussahen wie zerplatzte Tierhäute, durchlöchert, verkrustet vom schnell trocknenden Blut.

    Die Planken waren rutschig, das Blut vermischte sich mit Seewasser, bildete rote Rinnsale, die langsam über die Bordkante tropften. An den Relingen hingen Fetzen von Kleidung, Fingerspuren aus Blut, einer der Helme baumelte noch am Strick, als hätte der Träger ihn im Fallen mitgerissen.

    Und kein einziger lebte mehr.

    Die Banditen hatten nichts verloren.

    Wunden, ja. Slay hinkte leicht, Fitch hielt sich die Seite. Aber keiner fiel. Und das allein war bereits ein Zeichen: Diese Männer kämpften nicht. Sie jagten.

    Auf der Rückfahrt sagte kaum einer etwas. Einige saßen. Andere standen. Das Schiff bewegte sich langsam durch das rote Wasser. Rothwig stützte sich an einer Kiste ab, die Hände verschmiert, den Blick starr aufs Deck gerichtet. Nicht aus Entsetzen. Nicht aus Nachdenken. Sondern, weil er wusste, was er heute gesehen hatte – und dass es Teil des Spiels war.

    Er hatte nichts gefühlt, als der erste Soldat fiel. Auch nicht beim zweiten. Was sollte er auch fühlen? Mitleid? Für Männer, die genauso gekommen wären, um ihre Schwerter in seinen Bauch zu stoßen, hätte sich das Blatt anders gewendet?

    Nein.

    Das war kein Tag, der ihn verändert hatte. Kein Erwachen, keine Offenbarung. Nur ein weiterer Tag im Minental. Ungewöhnlich, ja. Aber nicht fremd.

    Er war mitgegangen. Er hatte überlebt. Und jetzt war er jemand, der dabei war, als es geschah.

    Das reichte.

  • Zwischen Balken und Blut

    Der Tag war wie jeder andere im Neuen Lager:
    Zäh.
    Kalt.
    Gefährlich.

    Rothwig saß in der Taverne, dort wo der Rauch der Feuerstelle das schlechte Bier kaschierte.
    Der Geruch von altem Fett, Schnaps und abgestandener Pilzsuppe hing in der Luft wie ein Fluch.
    Er hatte sich zwanzig Keulen Fleisch bestellt.

    Er hatte Ruhe. Endlich.
    Doch dann trat Jakorian ein.

    Wie aus dem Nichts. Kein Schritt zu hören. Kein Wort.

    Der neue Bandenboss. Früher Slays rechte Hand.
    Slay? Keine Spur. Kein Wort.

    Jakorian ging direkt auf Rothwig zu.
    Sagte "Wir müssen uns mal unterhalten"


    Ein Finger, ein Blick – und Rothwig stand.

    Daneben: Blade.
    Still, kantig, berechnend wie eine Falle aus Sumpfholz.
    Jakorian sagte nur ein Wort zu Blade
    „Komm.“

    Also ging Blade mit.

    Sie verließen die Taverne und gingen bis zu einem alten Bau aus Holz. Eine Plattform über dem Lager, von der man das ganze Neue Lagte überblicken konnte.
    Der Wind war stärker hier oben. Die Planken knarrten.
    Niemand sonst war da. Nur die drei.

    Jakorian stellte Fragen.

    Nicht viele. Aber die Art, wie er sie stellte, sagte mehr als jedes Verhör.
    Rothwig antwortete.

    Ein Seitenblick.
    Ein kurzes Nicken.

    Blade trat vor.
    Versuchte, Rothwig zu packen – direkt an die Gurgel.
    Doch Rothwig, überrascht aber nicht ganz unvorbereitet, konnte sich losreißen, stolperte ein paar Schritte zurück.

    Doch dann...

    Fynn.

    Wie aus dem Nichts.
    Grinsend.
    Verächtlich.
    Ein Arschloch in Menschengestalt.

    Blade packte Rothwig erneut – dieses Mal mit mehr Wucht – und schob ihn direkt in Fynns Richtung.

    Fynn zögerte nicht.
    Ein Tritt in die Kniekehle.
    Rothwigs Bein knickte ein wie morsche Rinde.
    Er ging zu Boden.

    Dann kamen die Tritte.
    Von Blade.
    Mehrfach.
    Harte Stiefel. Rippen. Bauch. Seite.

    Rothwig versuchte sich zu wehren – doch sein Körper wollte nicht.
    Die letzten Tage… die Stimmenjagd… die Entbehrung…

    Schließlich packte Fynn ihn am Kragen.
    Zog ihn zu einem langen Balken, Teil der Konstruktion.
    Daran hing ein alter Käfig, schief, leer – aber voller Bedeutung.
    Fynn presste Rothwig darauf.
    Rothwig war schwach, kaum Gegenwehr.
    Er lag dort wie ein Kadaver.

    Dann kam die Frage:
    „Maus oder Mann?“

    Rothwig hob den Kopf.
    Blut am Kinn.
    Augen halb zu.
    Und flüsterte:
    „Deine… Mutter.“

    Fynns Lächeln gefror.
    Dann ließ er ihn vom Balken rutschen.
    Rothwig schlug hart auf, direkt vor Jakorians Füßen.

    Stille.

    Jakorian sah auf ihn herab wie auf ein Stück Fleisch, das sich bewegt.
    Dann erneut: Fragen.
    Rothwig antwortete. Nicht höflich. Nicht nett.
    Aber er sprach.
    Und Jakorian hörte zu.

    Dann zog er eine Flinte.

    Langsam.
    Bedrohlich.
    Zielte auf Rothwigs Gesicht.

    Ein Moment.
    Stillstand.
    Dann: Klick.
    Nichts.
    Ladehemmung.

    Fynn und Bregarn hoben Rothwig auf.
    Er schwankte. Atmete schwer.
    Griff nach seinem Reisschnaps.

    Ein Schluck. Dann noch einer.


    Dann fünf Schüsseln Pilzsuppe, irgendwo aus der Ecke gereicht.
    Er fraß sie weg wie ein Tier.


    Dann…
    hörte er sie.

    Jakorians Stimme.
    Klar. Direkt an ihn.

    Die Jagd war nicht umsonst gewesen.

    Die Männer gingen. Rothwig blieb allein.
    Er wollte zurück ins Lager.
    Setzte den Fuß auf die Leiter.
    Doch sein Bein gab nach.

    Er stürzte.
    Tief.
    Holz splitterte.
    Stöhnen.
    Staub.

    Doch er lebte.

    Zerschlagen, blutig, fast gebrochen – aber am Leben.
    Und auf der Jagd.
    Acht Stimmen hatte er.
    Vier fehlten noch.

  • Rothwig – Der Letzte Feger von Myrtana

    Im düsteren Schatten der Berge, wo Nebel über das Lager kriecht und der Wind das Stöhnen der Mine mit sich trägt, lebt ein Mann, der von den Liedermachern vergessen wurde – aber nicht von der Pflicht. Sein Name: Rothwig. Kein Krieger, kein Magier, kein berühmter Abenteurer. Und doch – in seinem Tun liegt Größe. In seinen Händen: der Besen – sein Schwert. Der Dreck: sein Feind. Und heute... war Krieg.

    Der Morgen kam kalt und grau.

    Schon beim ersten Licht des Tages stand Rothwig auf. Kein Hahn krähte, keine Glocke läutete. Nur der klamme Geruch der feuchten Erde erinnerte ihn daran, dass es wieder Zeit war. Die Zeit des Fegens. Über Nacht hatten sich überall neue Feindlager gebildet: Dreckhaufen. Sie wucherten wie Pilze nach dem Regen – in den Wohnhöhlen der Kumpel, am Aufgang zur alten Mine, auf dem Damm, ja selbst im Lager beim Reisfeld.

    Rothwig spannte seine Schultern, griff nach seinem Besen – alt, gebrochen am Griff, doch treu wie ein Kampfgefährte – und zog in den Kampf. Mit jedem Schwung fegte er nicht nur den Dreck, sondern die Trägheit des Lagers fort. Die feinen Staubwirbel in der Luft glitzerten im Morgengrauen wie Asche nach einer Schlacht.

    Und dann – zwischen den stinkenden Haufen – die Belohnung.

    Vergraben unter altem Laub, zwischen Scherben, Knochen und Gammelbrot: Erzbrocken. Sechs an der Zahl. Jeder einzelne schwer von Geschichte. Wer hatte sie einst fallen lassen? War es ein fauler Novize, ein flüchtiger Dieb? Rothwig fragte nicht. Er nahm sie an sich – wie Siegestrophäen nach gewonnenem Gefecht.

    Die Pause war verdient – und sie war heilig.

    Zurück in seiner Hütte – nicht groß, nicht schön, aber sein Rückzugsort – entkorkte er seine Flasche. Reisschnaps. Nicht der beste im Lager. Nicht nur in Khorinis. Der beste in ganz Myrtana. Er brannte wie Feuer, reinigte die Kehle, ließ das Herz schlagen wie Kriegstrommeln. Dazu Pilzsuppe, kräftig und voller Geschmack, gewürzt mit dem, was die Natur hergab. Und ein Brot – trocken, hart, aber ehrlich. Kein Gaumenschmaus, aber ein Mahl für einen Mann, der mit dem Besen kämpft, wie andere mit dem Schwert.

    Doch der Tag war noch nicht vorbei.

    Noch einmal zog Rothwig aus. Noch einmal rief das Schlachtfeld.

    In der Pennerhütte – wo Trunkenbolde und Geschlagene hausen – türmte sich der Dreck zu kleinen Bastionen des Verfalls. Rothwig trat ein, sein Blick wie Stahl, der Besen erhoben. Und er fegte. Mit Schwung, mit Macht. Jeder Haufen wich, als fürchte er ihn. Auch in der Arena – dem Ort des Blutes und der Ehre – hatte sich der Schmutz breitgemacht. Und auch dort wich er dem Feger.

    Und dann – das Reisfeld.

    Weit und offen lag es da, das einzige seiner Art im Minental. Andere sahen nur Schlamm und Arbeit. Doch für Rothwig war es mehr. Es war Zuhause. Nicht aus Holz, nicht aus Stein – sondern aus Reihen von Reispflanzen, die unter seinen Händen wuchsen. Er erntete wie ein Künstler malt. Systematisch, ruhig, voll Hingabe.

    Zwischen den Halmen fand er kleine Wunder: eine reife Waldbeere, violetter Blauflieder, ein Stück Kohle – und eine alte Münze. Rostig, krumm, schwer. Ob sie wertvoll war? Wer wusste das schon. Rothwig steckte sie ein. Vielleicht war sie das letzte Andenken eines alten Königs. Vielleicht auch nur ein verlorener Kupferpfennig. Egal. Es war sein Fund.

    Die Nacht senkte sich langsam über das Tal.

    Die letzten Lichtstrahlen warfen lange Schatten. Die Wachen dösten im Stehen, ihre Rüstungen klirrten im Takt des Windes. Nur die Torwachen – wie immer – hielten stur die Stellung. Doch Rothwig, der letzte Feger, war müde. Der Korb voller Reis, die Sichel am Gürtel, der Schnaps noch warm im Bauch. Seine Schritte führten ihn zurück, hinab ins Dunkel, durch das leere Lager, zurück in seine Hütte.

    Dort, wo kein Ruhm glänzt. Kein Applaus ertönt. Nur das leise Knarzen des Strohs, wenn er sich niederlässt.

    Morgen wird der Dreck zurückkehren. Morgen wird er wieder kämpfen.
    Denn Rothwig weiß:

    Zitat

    „Solange Dreck existiert, gibt es Arbeit für den Besen. Und solange ich atme, wird der Boden rein sein.“

  • Wochen der Stille


    Rothwig war in letzter Zeit kaum noch im Neuen Lager zu sehen. Über mehrere Wochen hinweg fehlte jede Spur von ihm. Die Feuerstellen brannten wie immer, die Männer tranken, arbeiteten, stritten und schlugen sich die Zeit tot, doch Rothwig war nicht da. Sein Platz blieb leer, seine Stimme verstummt. Niemand wusste, wohin er verschwunden war, und er selbst hinterließ auch keine Worte oder Spuren, die Aufschluss gegeben hätten.


    Erst nach langer Zeit kehrte er zurück. Es gab keine Ankündigung, keinen großen Auftritt. Er war einfach wieder da, als wäre nichts geschehen, als hätte er nur einen Schritt aus dem Schatten gemacht. Auf die wenigen, die ihn direkt auf sein Verschwinden ansprachen, reagierte er knapp. Zwischen dem Neuen Lager und dem Adanoskloster habe er sich herumgetrieben, weiter nichts. Er sprach ohne Ausschmückung, ohne Geschichten, so als sei alles, was er zu sagen hätte, längst in seinen Gedanken verhallt.

    In den Wochen der Abwesenheit hatte er viel Zeit zum Grübeln. Er wanderte zwischen bekannten Wegen, suchte Stille an Orten, die fern von Arbeit, Streit und Geschrei lagen. Immer wieder tauchten die gleichen Fragen in ihm auf: Wie soll es mit mir weitergehen? Ist dies wirklich mein Platz? Will ich wirklich der Bande beitreten?  

    Die Gedanken kreisten, kamen zurück, veränderten sich, wurden schwerer und klarer zugleich. Doch eine Antwort fand er nicht. Er drehte und wendete die Möglichkeiten in seinem Kopf, doch jede Richtung ließ neue Zweifel zurück.

    Jetzt, da er wieder im Lager steht, trägt er diese Unruhe weiter in sich. Äußerlich wirkt er vielleicht derselbe, doch innerlich ist er noch immer unterwegs, noch immer auf der Suche nach dem, was vor ihm liegt. Es ist spürbar, dass er keine Entscheidung getroffen hat. Die Fragen lasten weiter auf ihm, und er trägt sie schweigend mit sich, Tag für Tag.

    Doch so unklar seine Gedanken im Moment sind, so sicher ist eines: Die Zeit der Unentschlossenheit wird nicht ewig dauern. Irgendwann wird die Antwort kommen. Irgendwann wird Rothwig wissen, welchen Weg er gehen will. Und wenn dieser Moment da ist, dann wird er nicht mehr zögern. Dann wird er seinen Plan schmieden – und ihn in die Tat umsetzen.

  • Auf der Jagd nach Stimmen

    Ramires hatte Rothwig die Aufgabe gegeben: das Geländer der Brücke in der tiefen, dunklen Goldmine instandzusetzen. Anfangs schien es einfach – ein paar morsche Balken prüfen, die alten Hölzer austauschen, die neuen Rundhölzer einsetzen. Doch schon die ersten morschen Stücke zeigten, dass dies kein gewöhnlicher Tag werden würde.

    Die Mine war still, nur das Tropfen von Wasser irgendwo tief unter der Erde und das Knarren der morschen Balken begleiteten ihn. Einige Hölzer ließen sich noch leicht bewegen, als wollten sie ihm den Anfang schenken. Rothwig drückte, schob, ruckte, trat – ein warmes Gefühl der Kontrolle durchströmte ihn. Alles schien machbar, alles unter Kontrolle.

    Kurz nach Beginn waren Ramires und Tallion noch da, beschäftigt mit Goldschürfen in den angrenzenden Gängen. Ihre Stimmen mischten sich mit dem Echo der Mine, kurze Blicke wurden ausgetauscht. Doch bald verschwanden sie, der Lärm der Spitzhacken verhallte. Rothwig aber blieb allein zurück – nur er, das hartnäckige Holz und die Dunkelheit.

    Die Stunden zogen sich endlos. Rothwig stemmte, drückte, schob, hebelte und knirschte mit den Zähnen, während die Splitter in seine Finger schnitten und die Luft stickig wurde. Stück für Stück setzte er neue Rundhölzer ein, presste und verkeilte sie, bis sie endlich Halt fanden. Immer wieder musste er einen Schluck Schnaps nehmen, um neue Kraft zu sammeln.

    Die anfängliche Leichtigkeit war längst einer zermürbenden Geduld gewichen. Jedes Holz war ein Mini-Gegner, ein kleiner Kampf, der seine Kraft, Ausdauer und Nerven prüfte. Die Mine schien dichter, die Schatten länger, jeder Schritt, jeder Atemzug ein Kampf gegen die Müdigkeit. Doch Rothwig gab nicht auf. Mit jedem rausgetretenen Stück, mit jedem neuen Rundholz wuchs seine Entschlossenheit.

    Schließlich, nach unzähligen Stunden voller Schweiß, Schmerz und Wut, gab das letzte widerspenstige Holz nach. Das Geländer stand wieder fest, stabil und unerschütterlich. Rothwig lehnte sich erschöpft zurück, die Hände blutig, die Muskeln brennend, doch das Herz stolz. Ramires und Tallion würden es nicht mehr sehen – sie waren längst weitergezogen. Der Sieg war allein Rothwigs.

    Heute hatte er die Brücke bezwungen. Kein Werkzeug, kein Zauber, nur rohe Kraft, Geduld und unerschütterlicher Wille hatten das Geländer zurück in die Sicherheit der Mine gebracht. Und tief in den dunklen Gängen hallte noch lange das Echo seines Triumphs.

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